Jede Familie ist anders

Ihre Eltern sind wir für immer.

Malte (30), Lena (32) und Tilda (∞)

**In diesem Text geht es um den Tod eines Kindes.**

 

 

Wir sind seit knapp 10 Jahren ein Paar.

Unser Leben in diesen Jahren war wunderschön, aufregend, abwechslungsreich und voll von lieben Menschen, die das Leben mit uns teilten. Eine Schwangerschaft stand noch gar nicht so recht auf dem Plan. Wir sind allerdings auch keine Menschen, die große und detaillierte Pläne für ihr Leben anlegen. Das Leben passiert und mit diesem Strom der Geschehnisse sind wir immer fröhlich mit geschwommen.

Als klar war, dass wir Eltern werden, sind natürlich allerlei neue Gedanken und Gefühle in uns aufgestiegen – Freude, Bedenken, Vorsicht und dann wieder übergroße Freude. Wir wussten, dass es eine enorme Veränderung wird, aber da unser Leben ohnehin aus vielen Veränderungen bestand, war es für uns eine Freude, auch diesen neuen Abschnitt zu begrüßen.

Die Schwangerschaft verlief wunderbar.

Ich wurde immer dicker, ohne viele Beschwerden. Das Kinderzimmer hatte ich schon im sechsten Monat fertig. Auch der Name unserer Tochter stand fest, sodass auch alle Freunde und unsere Familien schon von Tilda sprachen, bevor sie geboren war. Dass das Leben oft andere Wege einschlägt, war uns bewusst, doch haben wir nicht erwartet, dass unser Leben auf eine solch besondere und schmerzhafte Weise verändert wird.

Tilda wollte nicht so recht zur Welt kommen.

Ich war bereits 10 Tage über dem errechneten Termin. Dann ging alles ziemlich schnell: schlechtes CTG, ab in den OP – Kaiserschnitt. Ich war fast froh und dankbar über die „schnelle“ Lösung und freute mich einfach, dass das Warten ein Ende hatte.

Dann wurde mir jedoch mitgeteilt, dass sie eine sehr lange Zeit ohne Sauerstoffversorgung war und sie in das Uniklinikum überstellt werden muss. Zu diesem Zeitpunkt lag ich noch auf dem OP-Tisch und wurde zugenäht. Tildas Papa durfte noch am selben Tag zu ihr in die Uniklinik. Er hatte eine Kamera dabei und so sind die ersten Bilder von unserer Tochter über einen Kamerabildschirm zu mir gekommen.

Die Hebammen hatten zuvor auch ein Bild von ihr im NICU gemacht. Dieses Bild hatte ich wie ein Heiligtum immer in der Hand.

So verging der Nachmittag und ich wurde in ein Zimmer auf die Wochenbettstation gebracht, dieses Zimmer teilte ich mir mit einer Mutter und ihrem Sohn. Im Nachhinein für mich sehr unverständlich, aber in dem Moment war es nicht besonders schlimm für mich, war ich doch auch gerade Mama geworden.

Dass Tilda gesund werden würde, war in diesen Stunden meine ganze  Hoffnung. Es vergingen leider mehr als 24 Stunden bis auch ich in die Uniklinik überstellt wurde. In dieser Zeit war Tildas Papa abwechselnd bei mir und bei ihr. Für ihn war das natürlich eine unglaubliche Aufgabe. Die er mit ganz viel Liebe und Ruhe meisterte.

In der Uniklinik angekommen, hatten wir direkt das Gespräch mit dem Oberarzt. Er erklärte uns in einer sehr ruhigen Art, dass Tilda durch eine ´Mekonikum Aspiration´ einen erheblichen Sauerstoffmangel erlitten hatte. Sie wurde die letzten Stunden auf ein Kühlbett gelegt, um dem Gehirn die Möglichkeit zu geben sich zu erholen. Die Ausführung des Arztes war sehr klar und ohne Umschweife. Darüber war ich sehr Dankbar. Endlich sagte uns jemand was genau los war.

Das Gespräch war am Montag um 16 Uhr.

Uns wurde gesagt dass abzuwarten sei wie die Organe reagieren – es sähe aber nicht gut aus. Mit diesem Wissen und dem Gefühl in mir, dass sie nicht mehr lange leben wird, durfte ich sie endlich sehen. Der Weg an ihr Bettchen war glaube ich der schwerste in meinem Leben. Ich konnte wegen des Kaiserschnitts noch nicht richtig laufen und wurde im Rollstuhl zu ihr gebracht.

Der Arzt bereitete uns auf viele Geräte und Schläuche vor. Doch das war alles egal. Endlich stand ich an ihrem Bett. Sie lag fast komplett nackt auf diesem medizinischen Kühlbett.

In meinem inneren spielten sich alle möglichen Szenarien ab. Ich dachte sie muss doch jetzt aufwachen, ich bin doch jetzt da. Ich, ihre Mama, da muss doch jetzt ein Wunder passieren. Doch sie war Medikamentös so eingestellt, dass sie schlafen konnte und keine Schmerzen hatte. Ich durfte sie lediglich berühren. An streicheln oder gar halten war nicht zu denken, das wäre zu viel Irritation gewesen.

Das war ein ziemlich harter Moment.

Mein Kind lag vor mir mit ganz vielen Schläuchen, 100 % Beatmung und überall Pflaster und Elektroden. Ich konnte sie nur „berühren“ ganz vorsichtig, da wo keine Schläuche im Weg waren. Die Lautstärke der Geräte lies es auch kaum zu, dass ich mit ihr sprechen konnte, zumindest nicht so, dass ich das Gefühl hatte dass sie mich hören kann.

Ich verbrachte eine grauenvolle Nacht alleine in meinem Zimmer, auf einer Gynäkologischen Station. Um 22 Uhr wollte ich nochmal zu Tilda und lies mich zu ihr bringen. Darüber bin ich immer noch sehr Dankbar. Bis zum letzten Besuch habe ich sie insgesamt vier mal gesehen. Am nächsten Tag durften wir unsere Tochter in unseren Armen halten. Das erste und letzte Mal lebend.

In dieser Stunde verstarb sie in unseren Armen.

Diese Zeit war das ‚Magischste‘ was ich je erlebt habe. Wir konnten dieses wunderbare Wesen, unsere Tochter, halten, küssen und ganz genau betrachten. Nach dem Gespräch mit den Ärzten am Tag zuvor war mir klar, dass wir sie gehen lassen mussten. Ich bin dankbar, dass wir nichts zu entscheiden hatten. Ihre Organe waren so sehr beschädigt, dass ihr kleines, wildes Herz am Ende keine Kraft mehr hatte.

Nachdem wir unser kleines Wunder mit einem Lied dorthin begleiten durften, wo es ihr jetzt gut geht, wurden wir von dem grandios einfühlsamen Team der Neonatologie betreut.

Wir durften Tilda baden und ihre Fuß- und Handabdrücke zu Papier bringen. Ein Abschiedsraum wurde für uns organisiert. Dort konnten wir unsere Tochter noch über 24 Stunden halten, bestaunen, über alles weinen und – wohl das wichtigste – anfangen zu begreifen. Auch unsere Familie und engste Freunde konnten Tilda noch begrüßen und sich von ihr verabschieden.

Das waren unglaublich kostbare Stunden.

Wir sind dem Team das uns betreut hat, bis heute unendlich dankbar. Im Nachhinein habe ich viele Bücher zu den Themen Verlust und Trauer gelesen. Dabei wurde mir klar, dass uns alles an die Hand gegeben wurde was wichtig war, um die Trauerzeit gut zu begehen.

Nachdem die ersten Tage sehr verschwommen an uns vorbeizogen, stürzte ich mich in die Vorbereitung für die Beerdigung. Ich wollte ein wunderschönes Fest – ein Willkommensfest für Tilda, so eines, wie ich es schon geplant hatte, als sie noch in meinem Bauch war. Und das wurde es auch. Alle unsere Freunde und Familien waren gekommen. Alle weinten mit uns. Sie öffneten sich so sehr unserem Verlust, dass wir uns wie auf liebenden Händen getragen fühlten.

Dieses Gefühl hat niemals nachgelassen.

Unser Freundes- und Familienkreis war einfach wunderbar in dieser Zeit. Sie haben uns ganz behutsam und mit viel Empathie und Liebe zurück ins Leben geholt, ohne von uns zu erwarten Tilda ‚hinter uns zu lassen‘. Das haben wir nämlich nicht.

Einmal las ich diesen wunderbaren Satz: Wir müssen unsere Verstorbenen nicht los- oder zurücklassen, wir dürfen sie in das Leben mitnehmen. Genau das haben wir getan. Tilda ist unsere erste Tochter und sie wird es auch immer bleiben. Ihr Leben war viel zu kurz, aber das was sie in uns hineingelegt hat, wird bei uns bleiben für den Rest unseres Lebens.

Diese Erkenntnis trägt uns durchs Leben und das Erkennen ist dabei noch längst nicht vorbei.

Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Offenbarungen hat das Leben für uns. Auch wenn der Schmerz über den Verlust oftmals alles einnimmt, so ist die Hoffnung und Dankbarkeit genauso immer wieder Teil von uns.

Über Gruppen für verwaiste Eltern und einen Rückbildungskurs speziell für Mütter wie mich, haben wir auch Kontakt zu anderen Eltern bekommen, die ebenfalls ihre Kinder so früh gehen lassen mussten. Diese Beziehungen sind etwas ganz Besonderes. Eine Mutter oder ein Vater die/der denselben Schmerz erfahren hat, kann das auf einer anderen Ebene verstehen. Und für dieses Verstanden-werden sind wir unendlich dankbar.

Das ist das wichtigste, was ich für die Zeit danach mitgenommen habe. Eine gute Begleitung. In dem Moment dieses Schocks weiß man selber nicht was jetzt gut oder wichtig wäre. Ich hätte Tilda auch direkt nach ihrem versterben abgegeben. Ich kannte weder die Gesetzeslage noch die Wichtigkeit dieser Stunden mit einem verstorbenen Menschen. Wie auch?

Der Tod und alles damit verbundene wird so sehr aus unserer Gesellschaft ausgelagert.

Darum bin ich diesen Menschen so Dankbar, die wussten wie wichtig diese Abschiedszeit ist. Und uns diese auch ermöglicht haben. Ich bedaure es sehr immer wieder Geschichten zu hören, wo es dieses Angebot nicht gab. Für den Zeitpunkt an dem man nach Hause geht, finde ich, könnten sich noch einige Ideen entwickeln lassen. Es gibt durchaus Gesprächsgruppen und Trauerbegleiter. Doch finde ich, dass da noch viel mehr Aspekte abgedeckt werden sollten.

Ich hatte das Glück in den erstmals (!) angebotenen Rückbildungskurs für verwaiste Mütter gehen zu können. Das war eine ganz wichtige Sache. Ich fühlte mich so sehr meiner Mutterschaft beraubt und dann musste ich alleine zuhause mit meiner Hebamme Rückbildungsübungen machen, weil ein „normaler“ Kurs natürlich nicht in Frage kam.

Da ich selbst Soziale Arbeit studiere, ist das auch mein Antrieb, später Angebote für Frauen anzubieten die ähnliches erlebt haben. Ein Jahr später haben wir Tilda´s Geburtstag gefeiert. Wir wollten es zu einem Fest des Lebens werden lassen, denn wir leben und durch Tilda ist unser Leben viel tiefer, wahrhaftiger und auch schöner geworden.

Ein Leben ohne sie gibt es für uns nicht.

So wurde ihr erster Geburtstag mit bunten Luftballons, Kuchen und vielen Geschenken gefeiert. Es wurde wirklich zu einem Fest des Lebens, der Dankbarkeit und der Freude. Die Sehnsucht nach einem zweiten Kind war schon nach einigen Monaten in uns, doch wussten wir auch, dass es wichtig und gut ist zu warten.

Aufgrund des Kaiserschnitts wurde uns geraten, ein Jahr zu warten. Das war ein sehr weiser Ratschlag. Nach Tilda´s erstem Geburtstag wussten wir: Jetzt sind wir bereit dem Leben wieder zu trauen. Und ich wurde ziemlich schnell erneut schwanger. Die ersten Wochen waren sehr holprig. Meine Erwartung an eine erneute Schwangerschaft war sehr romantisch.

Womit ich nicht gerechnet hatte war ein erneuter Trauerzustand.

Dieser war sehr wichtig und gut, doch hat er mich einfach überrumpelt. So war ich also mit unserem zweiten Kind schwanger und weinte doch nur um mein erstes. Heute bin ich in der 25. Woche der Folgeschwangerschaft. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ob dieses Kind bei uns bleiben wird oder nicht? Ich weiß aber, dass es bereits jetzt sehnlichst geliebt und aus tiefstem Herzen erwartet wird.

All dies versuche ich dem Geschwisterchen jetzt schon zu signalisieren. Ich weiß, dass wir nicht erst dann eine Familie sein werden. Wir waren lange bevor Tilda in unser Leben getreten war schon eine. Das haben wir oft formuliert und ebenso empfunden.

Durch Tilda wurden wir bereichert, vergrößert und auch unsere Beziehung hat sich durch alles Geschehene auf eine ganz wunderbare Weise vertieft. Die gemeinsame Liebe zu unserer Tochter hat eine sehr tiefe Verbindung geschaffen nicht nur zwischen uns als Eltern, sondern auch mit unseren Familien und Freunden.

Das Leben bleibt spannend und aufregend.

Ich freue mich darauf was noch alles kommt, mit viel Dankbarkeit und Liebe meiner Tochter gegenüber geht unser Leben weiter. Als Familie. 

Nachtrag: Im März 2018 brachte Lena einen gesunden Jungen zur Welt. Ich freue mich unendlich für euch! 

‚Mit Tilda im Herzen und Adam am Arm‘. 

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